Die Zeit der Leoniden (7139 292). ( Der Kokon. )
Vergilbte Seiten
"Das natürliche Ende einer Ehe ist der Tod", pflegte Oskar
Bertram, ordentlicher Professor für Familienrecht, zu sagen.
Wiepe nimmt das wörtlich. Bis zu ihrem fünfzigsten Lebensjahr ist
sie der Reighe nach Tochter des Ornithologen Kleiner, die Frau des
Juristen Bertram, Mutter ihrer Töchter Barabara und Jenny. Die
Witwe Betrams aber wird sie nicht. Sie streift die Vergangenheit
ab wie ein Kokon, und eine ganz andere Frau entpuppt sich.
Gesichert durch eine "schöne Pension", die ihr Mann ihr hinter-
lassen hat, tut sie fortan, was ihr Spaß macht: betätigt sich im
Kunsthandel, fährt ein schnelles Auto, reist an den Pazifik, an die
Wasserfälle Tennessees, nach Paestum, wird für eine Spielzeit
die Geliebte von Markus, dem Regisseur. So lebt sie für zehn Jahre.
Dann weiß sie, daß sie todkrank ist. Sie ist allein, aber nicht ein-
sam. Sie hat gehabt, was sie haben wollte. Nun hüllt sie sich in
ihre Erinnerungen wie in einen Kokon; macht keinen Unterschied
zwischen Lebenden und Toten. Noch einmal versammelt sie alle
um sich: Gingo, den sie liebte, als sie jung war; Oskar, mit dem sie
dreißig Jahre verheiratet war; ihre Töchter, die kleinen Unge-
heuer; den Soldaten; Markus, den Geliebten. Mit ihnen verbringt
sie "die Zeit der Leoniden", die letzten Wochen ihres Lebens.